Der
junge und frischgebackene Professor war heilfroh, dass er die Universität
verlassen konnte und genau das tat er auch auf direktem Weg. Die Ausrede, dass sein
Blutdruck instabil gewesen sei und der Überraschungsbesuch sein Restliches dazu
beigetragen hatte, hatten alle mehr oder weniger geschluckt. Letztendlich war
es ihm egal, ob sie ihm geglaubt hatten, er wollte einfach nur noch weg.
Er
knallte die Haustür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. So, als würde er
sie vor weiteren Eindringlingen zuhalten. "Geschafft", stieß er
erleichtert aus, dann hielt er nach seinem Roboter Ausschau. "Vito?"
"Ich
bin hier, Meister", kam es aus der hinteren Ecke zurück. Der Roboter saß
gemütlich im Schaukelstuhl und las fleißig.
"Das
Essen ist auch schon fertig." Er klappte das Buch zusammen und stand auf.
"Möchtest du eine Kleinigkeit zu dir nehmen?"
Michele
hob die Augenbrauen, dann nickte er unstet. "Hm ja, eine Kleinigkeit ist perfekt", gab er zurück, weil er noch nicht wusste, ob sein Magen jetzt
schon fähig war Nahrung zu verarbeiten. Anschließend folgte er seinem Roboter in
die Küche.
Plötzlich
klingelte es an der Haustür. Michele schrak zusammen, weil er die Klingel noch nie
gehört hatte, solange er in Riverview war.
"Soll
ich die Tür öffnen?", erkundigte sich Vito und stellte den Teller wieder
ab.
Michele
sprang ihm entgegen, damit er ja nicht auf die Idee kam, die Tür zu öffnen.
"Nein", erwiderte er hastig, "ich öffne die Tür. Versteck dich
bitte im Schlafzimmer. Dich braucht noch niemand zu sehen."
"Warum
denn nicht?", hakte Vito mit einem trotzigen Unterton nach.
"Tu
bitte, was ich dir sage", wies Michele drakonisch an, denn er wollte nicht
mit einer Maschine diskutieren. "Ich erkläre es dir später. Bitte geh
jetzt ins Schlafzimmer und bleib solange dort, bis ich dich hole."
Wie
ein gedroschener Straßenköter setzte Vito seine Metallglieder in Bewegung,
steuerte auf die Schlafzimmertür zu und bedachte seinen Erschaffer mit einem
abfälligen Schulterblick. Michele konnte nicht deuten, ob es ein
eingeschnapptes Ansehen war, oder ein Prüfendes. Beides wäre ein Fortschritt der Technik.
Nachdem
die Tür hinter Vito ins Schloss gefallen war, eilte Michele an die Haustür und
öffnete sie. "Tori?", fragte er überrascht, weil er das Gefühl bekam,
seinen Augen nicht mehr trauen zu können. "Was machen Sie denn hier?"
"Naja",
stammelte sie, "ich dachte mir, dass Sie für mich viel zu wertvoll sind,
als dass ich Sie jetzt ohne noch einmal zu sprechen einfach abreisen lassen
könnte. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?"
Erst
schaute er skeptisch drein, doch dann machte er der jungen Frau den Weg ins
Haus frei und ließ sie eintreten. Wertvoll hatte ihn noch kein Fremder
betitelt. Er mochte die junge Studentin gern, weil sie unheimlich wissbegierig
und strebsam war. Vielleicht aber auch, weil ihr Äußeres bei vielen Mitmenschen
ein Schubladendenken provozierte, sie aber all diese Mitmenschen mit ihrer
Intelligenz locker in die Tasche stecken könnte. Sie erinnerte ihn ein wenig an sich selbst.
"Ich
wollte vor meiner Heimreise noch etwas essen. Möchten Sie mit mir essen?"
Sie
hatte noch nichts gegessen, weil sie ihm nach der Uni heimlich gefolgt war, um
seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Aber selbst wenn sie schon etwas
gegessen hätte, hätte sie sich die Gelegenheit niemals nehmen lassen mit ihm zu
speisen. "Ja, sehr gern. Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig."
Sie lächelte warm und nahm Platz, während Michele Vitos gekochte Speise auf einen weiteren
Teller auftat.
Kurze
Zeit später setzte er sich zu ihr. "Guten Appetit", wünschte er und
fragte angespannt: "Was kann ich denn für Sie tun?"
"Ich
finde es schade, dass Sie Riverview so schnell wieder verlassen wollen. Ich kann Sie
sicherlich nicht umstimmen, habe ich recht? Ich glaube, ich würde fast alles
dafür tun, dass Sie uns erhalten bleiben." Sie grinste und nahm einen
Happen. "Hm, es schmeckt ausgezeichnet."
"Danke",
sagte er und beantwortete im nächsten Atemzug ihre Frage. "Sicherlich
wissen Sie, dass ich als Arzt tätig bin. Meine Patienten brauchen mich."
"Wir
brauchen Sie auch", gab sie frech zurück und es passte irgendwie sehr gut
zu ihrem leicht heiseren Sound in ihrer Stimme, "ich habe all Ihre
Berichte gelesen und ich muss sagen, dass ich außerordentlich von ihrem Schreibstil
und vor allem Ihrer Sichtweise in vielerlei Hinsicht sehr beeindruckt bin.
Naja, das ist jetzt vielleicht der falsche Ausdruck. Ich bin total fasziniert
von ihren Arbeiten. Vor allem, weil Sie sich auch mit Alternativmethoden
beschäftigen. Das findet man ja leider nicht so oft. Es gibt aber noch einen
weiteren Punkt." Tori machte es spannend und nahm erst einmal genüsslich
den nächsten Happen zu sich.
Michele
wartete geduldig auf ihre nächste Ausführung und aß ebenso.
"Wissen
Sie, gerade ihre Ausführung über KISS hat mich besonders bewegt. Wie Sie auf
Babys und ihre Bedürfnisse eingegangen sind, das war der absolute Oberhammer.
Derartiges habe ich zuvor noch nie gelesen. Ich konnte herauslesen, dass Sie
Kinder sehr gern haben. Ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu sagen, dass mich
Ihr Alter etwas überfordert hat, aber mittlerweile finde ich das richtig,
richtig gut. Was mich unglaublich interessieren würde ist, wie Sie zu
paranormalen Ereignissen stehen?"
Michele
schluckte im ersten Moment und blickte sie an. "Tori, das ist zweifelsohne
auch für mich ein sehr interessantes Thema, aber leider gelingt es mir nur selten, mich kurz zu fassen. Wie Sie wissen, möchte ich gleich abreisen."
Tori
seufzte enttäuscht. Sie lauschte seinen Worten so unglaublich gern. Sein
Unterricht war für sie einmalig, weil er es mit seinen Ausführungen geschafft
hätte, sie für jedes Thema zu begeistern.
"Schade",
säuselte sie benommen und lenkte auf den Punkt für ihr eigentliches Kommen.
"Ich würde total gerne mein Praktikum bei Ihnen machen. Bestünde dafür
denn die Möglichkeit? Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Es wäre mir
eine Ehre, mit Ihnen Seite an Seite arbeiten zu können. Keiner kann mir den
Stoff so gut vermitteln wie Sie. Nach dem Praktikum möchte ich nach Afrika
übersiedeln, dort meine kleine Praxis eröffnen und den Menschen vor Ort helfen,
aber hauptsächlich Kindern. Sie wissen ja, Beschneidungen bei kleinen Mädchen und
so. Das ist ein bestialisches Verbrechen und das kann ich nicht stillschweigend dulden."
Michele
schluckte laut, weil sie ihn unglaublich überraschte. "Tori, ich wohne in
Twinbrook." Michele musste sich eingestehen, dass die junge Studentin ihn
mit ihren edlen Absichten, Menschen helfen zu wollen, bereits in der Tasche
hatte.
"Das
weiß ich."
"Ihre
Pläne sind viel zu wertvoll, als das ich ablehnen könnte", gab er ihr das
Kompliment zurück. "Sie wollen also nach Twinbrook kommen und bei mir
lernen? Was soll ich sagen? Ich bin in der Tat etwas sprachlos. Es ist ja nicht
das erste Mal, dass Sie mich überraschen", gab er zu.
Sie
grinste vor Freude. "Das geht mir mit Ihnen genauso." Das Kompliment
gab sie sehr gerne nochmal an ihn zurück. "Vorhin im Klassenzimmer ... Sie
hatten eine Panikattacke, richtig? Ich will nicht indiskret sein, aber es wäre
schön, wenn Sie ehrlich zu mir sind, weil das wichtig für meine
Beobachtungsgabe ist."
Und
schon wieder haute sie ihm einen Überraschungseffekt um die Ohren. Er stockte
und zögerte mit seiner Antwort.
"Ich
interessiere mich für Kinderpsychologie", begründete sie ihre
Indiskretion, "darum wäre es für mich wichtig, wenn Sie mir eine ehrliche
Antwort geben. Ihre Symptome haben mir jedenfalls ganz danach ausgesehen und es
tut mir leid, dass Sie diesem Stress ausgesetzt worden sind. Jemand, der das
noch nie am eigenen Leib gespürt hat, kann sich nicht im Geringsten
hineinversetzen." Die Abfälligkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie
hatte ihm wieder bewiesen, dass sie begabt und talentiert war. Er nickte. "Sie
haben eine sehr gute Beobachtungsgabe, Tori. Ich leide tatsächlich unter
Panikattacken, sobald ich von vielen Menschen eingekreist werde. Aber ich lebe
schon seit vielen Jahren damit und habe es mittlerweile gut unter Kontrolle.
Ausgenommen heute, weil ich überrascht worden bin. Interessant, dass Ihnen das
als Medizinstudentin nicht entgangen ist, während Professoren hoffentlich
denken, dass mein Kreislauf der Auslöser war. Sie haben Talent."
"Danke."
Es ehrte sie ungemein, das von ihm zu hören.
Michele
wurde unruhig und drängelte ein wenig. "Dem Praktikum dürfte bis auf das
Formelle nichts im Wege stehen. Wann haben Sie vor zu beginnen?"
"Am
liebsten nach dem kommenden Semester. Ich möchte keine Zeit verlieren. Gibt es
in Ihrem Ort sowas wie eine Schwestern-WG? Leider sind meine Mittel als
Studentin doch stark begrenzt."
"Ich
schlage vor, dass Sie mir Ihre E-Mail-Adresse aufschreiben und ich schreibe
Ihnen meine auf. Senden Sie mir schnellstmöglich Ihre Bewerbung und Unterlagen
zu. Sobald ich sie erhalten habe, werde ich zeitnah darauf reagieren. Eine
feste Zusage kann ich Ihnen erst nach Erhalt der Unterlagen geben und die
bekommen Sie auch schriftlich von mir. Zwischenzeitlich werde ich mich im
Krankenhaus informieren, ob eine Unterbringung möglich ist. Im Schwesternwohnheim
waren bislang nur wenige Plätze frei, daher kann ich keine verbindliche Aussage
tätigen."
"Selbstverständlich
werde ich Ihnen umgehend meine Unterlagen zusenden", sagte sie, während
Michele ihr seine private E-Mail-Adresse aufschrieb.
Er
reichte ihr den Zettel und sagte: "Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht
sofort eine feste Zusage machen kann. Sollten Sie jedoch Ihre Praxiserfahrung
bei mir machen wollen, möchte ich Sie vorab darauf vorbereiten, dass Sie aus
Hygienegründen im Operationssaal auf Ihre Piercings verzichten müssen."
Tori
seufzte betrübt. "Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss, wenn ich mein
Praktikum in der Chirurgie machen will. Aber an der Chirurgie kommt man als
angehender Mediziner leider nicht vorbei."
Michele
nickte. "Stimmt", pflichtete er ihr bei. "Wenn Sie mich jetzt
entschuldigen würden, ich muss mich sputen."
"Danke,
Professor." Tori stand auf und rückte den Stuhl an den Tisch. "Vielen
Dank und gute Heimreise. Ich werde Ihnen gleich meine Unterlagen zusenden, ich
kann es kaum erwarten, Ihnen bei der Arbeit assistieren und zusehen zu
dürfen."
Michele
begleitete sie höflich zur Tür und reichte ihr zum Abschied seine Hand.
"Bis demnächst."
"Auf
jeden Fall", gab sie euphorisch zurück, öffnete die Haustür und sprang freudig die
Stufen hinunter.
Michele
sah ihr einen kurzen Moment nach. Er war bereits jetzt schon auf ihre
Unterlagen gespannt. Anschließend ging er zu Vito ins Schlafzimmer.
"Entschuldige, es hat etwas länger gedauert. Ich packe noch schnell meine
Sachen zusammen, dann können wir uns auf den Heimweg machen."
"Schon
erledigt", sagte Vito, der gelangweilt auf dem Bett lag und Löcher in die
Luft starrte.
"Das
nenne ich Service", erwiderte Michele grinsend. "Dann nichts wie los.
Ach, die Werkbank muss ich noch auseinanderschrauben."
"Das
mache ich schnell." Der fleißige Roboter stand auf und verschwand zur Tür
hinaus.
Michele
schnappte sich die bereits gepackte Reisetasche und schaute sich noch einmal in jedem Raum um, ob
Vito auch nichts vergessen hatte, dann folgte er seinem Roboter in die Garage
und verfrachtete die Einzelteile der Werkbank in den Kofferraum.
"Anschnallen!", befahl er Vito und setzte sich hinters Lenkrad. Einen Moment später traten sie die Heimreise an.
Kurz
bevor Michele auf die große Hauptstraße einbiegen wollte, trat er unsanft auf
die Bremse, weil er Tori entdeckt hatte. Vito quiekte kurz auf, zeitgleich
wurde sein Oberkörper nach vorn geworfen, während sein Metallschädel ungebremst
die Windschutzscheibe küsste. Von dem lauten Knall zuckte Michele zusammen, währenddessen
wurde Vitos Oberkörper wieder zurück in den Sitz geschleudert. Mit einem lauten
Signalton und Zischen der Stromleitungen verabschiedete sich sogleich die
Technik. Vito ließ den Kopf hängen und schmorte vor sich hin.
"Verdammt",
fluchte Michele, "ich habe doch gesagt: Anschnallen!"
Der
junge Mediziner schüttelte über den Roboter den Kopf, ließ ihn aber schmorend
im Auto sitzen und stieg aus.
"Tori",
rief er ihren Namen und eilte zu ihr hinüber. Sie stand zusammengekauert an
einem Baum. Vorsichtig schaute er über ihre Schulter und erkundigte sich
besorgt: "Ist alles in Ordnung?"
Tori
hatte die Luft angehalten und die Augen zusammengekniffen, doch als sie seine
Körperwärme im Rücken spürte, kam sie mit ihrem Oberkörper wieder hoch. Ihr
Körper zuckte dezent, dann lief ihr Gesicht rot an. "Ähm", machte sie
und räusperte sich. Ihr war das peinlich, dass ausgerechnet der unglaubliche
Professor sie so sehen musste. "Danke der Nachfrage", stammelte sie,
"ja, es ist alles in Ordnung."
"Wirklich?",
hakte Michele nach, denn das sah ganz und gar nicht danach aus.
"Wirklich",
versicherte sie ihm versteinert. "Kommen Sie gut Heim. Sobald ich zu Hause
bin, werden Sie Post von mir bekommen", versuchte sie sich peinlich
berührt aus der Affäre zu ziehen, indem sie vom Thema ablenkte und sich am besten
auch nicht bewegte.
"Ja,
das sagten Sie bereits", erwiderte Michele skeptisch. Er musste sich weit vorbeugen, damit er einen Blick in ihr Gesicht werfen konnte, denn er glaubte
ihrer Aussage nicht. "Kann ich Sie nach Hause bringen?"
Tori
schüttelte energisch den Kopf. "Nein, nein. Mein Auto steht am
Straßenrand. Bis dann, Professor", wimmelte sie ihn ab.
"Na
schön, wie Sie wollen", gab er nach. "Ja, bis dann." Er ließ ihr
einen letzten argwöhnischen Blick zuteilwerden und ging zurück zu seinem Auto,
in dem der defekte Roboter nicht auf ihn wartete.
Tori
sah Michele traurig hinterher. Sie setzte an, dann zögerte sie wieder, um
nochmal neu anzusetzen. "Professor?", rief sie hinter ihm her.
Michele
drehte sich zu ihr um. "Ja?" An den Titel musste er sich erst noch
gewöhnen, aber er war der Lohn für seinen Fleiß.
Tori
biss sich auf die Unterlippe und ballte ihre Fäuste. Schließlich überlegte sie
es sich anders. "Fahren Sie vorsichtig und bitte melden Sie sich bei mir.
Für mich hängt sehr viel von dem Praktikum ab."
"Das
werde ich, machen Sie sich keine Sorgen." Anschließend setzte er seinen
Weg fort, stieg ins Auto und bog auf die Hauptstraße ein.
Was
Michele nicht mehr sehen konnte, war, dass die junge Studentin weinend auf ihre
Knie fiel.
Es
hatte sie enorm viel Kraft gekostet, ihre Tränen so lange zu unterdrücken, bis
er es nicht mehr sehen konnte.
Textlänge: 2.260 Wörter
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