Donnerstag, 5. April 2018

Teil 197 - Ich glaube, ich würde fast alles dafür tun ...

Der junge und frischgebackene Professor war heilfroh, dass er die Universität verlassen konnte und genau das tat er auch auf direktem Weg. Die Ausrede, dass sein Blutdruck instabil gewesen sei und der Überraschungsbesuch sein Restliches dazu beigetragen hatte, hatten alle mehr oder weniger geschluckt. Letztendlich war es ihm egal, ob sie ihm geglaubt hatten, er wollte einfach nur noch weg.

Er knallte die Haustür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. So, als würde er sie vor weiteren Eindringlingen zuhalten. "Geschafft", stieß er erleichtert aus, dann hielt er nach seinem Roboter Ausschau. "Vito?"

"Ich bin hier, Meister", kam es aus der hinteren Ecke zurück. Der Roboter saß gemütlich im Schaukelstuhl und las fleißig.

"Das Essen ist auch schon fertig." Er klappte das Buch zusammen und stand auf. "Möchtest du eine Kleinigkeit zu dir nehmen?"

Michele hob die Augenbrauen, dann nickte er unstet. "Hm ja, eine Kleinigkeit ist perfekt", gab er zurück, weil er noch nicht wusste, ob sein Magen jetzt schon fähig war Nahrung zu verarbeiten. Anschließend folgte er seinem Roboter in die Küche.

Plötzlich klingelte es an der Haustür. Michele schrak zusammen, weil er die Klingel noch nie gehört hatte, solange er in Riverview war.

"Soll ich die Tür öffnen?", erkundigte sich Vito und stellte den Teller wieder ab.

Michele sprang ihm entgegen, damit er ja nicht auf die Idee kam, die Tür zu öffnen. "Nein", erwiderte er hastig, "ich öffne die Tür. Versteck dich bitte im Schlafzimmer. Dich braucht noch niemand zu sehen."

"Warum denn nicht?", hakte Vito mit einem trotzigen Unterton nach.

"Tu bitte, was ich dir sage", wies Michele drakonisch an, denn er wollte nicht mit einer Maschine diskutieren. "Ich erkläre es dir später. Bitte geh jetzt ins Schlafzimmer und bleib solange dort, bis ich dich hole."

Wie ein gedroschener Straßenköter setzte Vito seine Metallglieder in Bewegung, steuerte auf die Schlafzimmertür zu und bedachte seinen Erschaffer mit einem abfälligen Schulterblick. Michele konnte nicht deuten, ob es ein eingeschnapptes Ansehen war, oder ein Prüfendes. Beides wäre ein Fortschritt der Technik.

Nachdem die Tür hinter Vito ins Schloss gefallen war, eilte Michele an die Haustür und öffnete sie. "Tori?", fragte er überrascht, weil er das Gefühl bekam, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. "Was machen Sie denn hier?"

"Naja", stammelte sie, "ich dachte mir, dass Sie für mich viel zu wertvoll sind, als dass ich Sie jetzt ohne noch einmal zu sprechen einfach abreisen lassen könnte. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?"

Erst schaute er skeptisch drein, doch dann machte er der jungen Frau den Weg ins Haus frei und ließ sie eintreten. Wertvoll hatte ihn noch kein Fremder betitelt. Er mochte die junge Studentin gern, weil sie unheimlich wissbegierig und strebsam war. Vielleicht aber auch, weil ihr Äußeres bei vielen Mitmenschen ein Schubladendenken provozierte, sie aber all diese Mitmenschen mit ihrer Intelligenz locker in die Tasche stecken könnte. Sie erinnerte ihn ein wenig an sich selbst.

"Ich wollte vor meiner Heimreise noch etwas essen. Möchten Sie mit mir essen?"

Sie hatte noch nichts gegessen, weil sie ihm nach der Uni heimlich gefolgt war, um seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Aber selbst wenn sie schon etwas gegessen hätte, hätte sie sich die Gelegenheit niemals nehmen lassen mit ihm zu speisen. "Ja, sehr gern. Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig." Sie lächelte warm und nahm Platz, während Michele Vitos gekochte Speise auf einen weiteren Teller auftat.

Kurze Zeit später setzte er sich zu ihr. "Guten Appetit", wünschte er und fragte angespannt: "Was kann ich denn für Sie tun?"

"Ich finde es schade, dass Sie Riverview so schnell wieder verlassen wollen. Ich kann Sie sicherlich nicht umstimmen, habe ich recht? Ich glaube, ich würde fast alles dafür tun, dass Sie uns erhalten bleiben." Sie grinste und nahm einen Happen. "Hm, es schmeckt ausgezeichnet."

"Danke", sagte er und beantwortete im nächsten Atemzug ihre Frage. "Sicherlich wissen Sie, dass ich als Arzt tätig bin. Meine Patienten brauchen mich."

"Wir brauchen Sie auch", gab sie frech zurück und es passte irgendwie sehr gut zu ihrem leicht heiseren Sound in ihrer Stimme, "ich habe all Ihre Berichte gelesen und ich muss sagen, dass ich außerordentlich von ihrem Schreibstil und vor allem Ihrer Sichtweise in vielerlei Hinsicht sehr beeindruckt bin. Naja, das ist jetzt vielleicht der falsche Ausdruck. Ich bin total fasziniert von ihren Arbeiten. Vor allem, weil Sie sich auch mit Alternativmethoden beschäftigen. Das findet man ja leider nicht so oft. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt." Tori machte es spannend und nahm erst einmal genüsslich den nächsten Happen zu sich.

Michele wartete geduldig auf ihre nächste Ausführung und aß ebenso.

"Wissen Sie, gerade ihre Ausführung über KISS hat mich besonders bewegt. Wie Sie auf Babys und ihre Bedürfnisse eingegangen sind, das war der absolute Oberhammer. Derartiges habe ich zuvor noch nie gelesen. Ich konnte herauslesen, dass Sie Kinder sehr gern haben. Ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu sagen, dass mich Ihr Alter etwas überfordert hat, aber mittlerweile finde ich das richtig, richtig gut. Was mich unglaublich interessieren würde ist, wie Sie zu paranormalen Ereignissen stehen?"

Michele schluckte im ersten Moment und blickte sie an. "Tori, das ist zweifelsohne auch für mich ein sehr interessantes Thema, aber leider gelingt es mir nur selten, mich kurz zu fassen. Wie Sie wissen, möchte ich gleich abreisen."

Tori seufzte enttäuscht. Sie lauschte seinen Worten so unglaublich gern. Sein Unterricht war für sie einmalig, weil er es mit seinen Ausführungen geschafft hätte, sie für jedes Thema zu begeistern.

"Schade", säuselte sie benommen und lenkte auf den Punkt für ihr eigentliches Kommen. "Ich würde total gerne mein Praktikum bei Ihnen machen. Bestünde dafür denn die Möglichkeit? Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen Seite an Seite arbeiten zu können. Keiner kann mir den Stoff so gut vermitteln wie Sie. Nach dem Praktikum möchte ich nach Afrika übersiedeln, dort meine kleine Praxis eröffnen und den Menschen vor Ort helfen, aber hauptsächlich Kindern. Sie wissen ja, Beschneidungen bei kleinen Mädchen und so. Das ist ein bestialisches Verbrechen und das kann ich nicht stillschweigend dulden."

Michele schluckte laut, weil sie ihn unglaublich überraschte. "Tori, ich wohne in Twinbrook." Michele musste sich eingestehen, dass die junge Studentin ihn mit ihren edlen Absichten, Menschen helfen zu wollen, bereits in der Tasche hatte.

"Das weiß ich."

"Ihre Pläne sind viel zu wertvoll, als das ich ablehnen könnte", gab er ihr das Kompliment zurück. "Sie wollen also nach Twinbrook kommen und bei mir lernen? Was soll ich sagen? Ich bin in der Tat etwas sprachlos. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie mich überraschen", gab er zu.

Sie grinste vor Freude. "Das geht mir mit Ihnen genauso." Das Kompliment gab sie sehr gerne nochmal an ihn zurück. "Vorhin im Klassenzimmer ... Sie hatten eine Panikattacke, richtig? Ich will nicht indiskret sein, aber es wäre schön, wenn Sie ehrlich zu mir sind, weil das wichtig für meine Beobachtungsgabe ist."

Und schon wieder haute sie ihm einen Überraschungseffekt um die Ohren. Er stockte und zögerte mit seiner Antwort.

"Ich interessiere mich für Kinderpsychologie", begründete sie ihre Indiskretion, "darum wäre es für mich wichtig, wenn Sie mir eine ehrliche Antwort geben. Ihre Symptome haben mir jedenfalls ganz danach ausgesehen und es tut mir leid, dass Sie diesem Stress ausgesetzt worden sind. Jemand, der das noch nie am eigenen Leib gespürt hat, kann sich nicht im Geringsten hineinversetzen." Die Abfälligkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Sie hatte ihm wieder bewiesen, dass sie begabt und talentiert war. Er nickte. "Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe, Tori. Ich leide tatsächlich unter Panikattacken, sobald ich von vielen Menschen eingekreist werde. Aber ich lebe schon seit vielen Jahren damit und habe es mittlerweile gut unter Kontrolle. Ausgenommen heute, weil ich überrascht worden bin. Interessant, dass Ihnen das als Medizinstudentin nicht entgangen ist, während Professoren hoffentlich denken, dass mein Kreislauf der Auslöser war. Sie haben Talent."

"Danke." Es ehrte sie ungemein, das von ihm zu hören.

Michele wurde unruhig und drängelte ein wenig. "Dem Praktikum dürfte bis auf das Formelle nichts im Wege stehen. Wann haben Sie vor zu beginnen?"

"Am liebsten nach dem kommenden Semester. Ich möchte keine Zeit verlieren. Gibt es in Ihrem Ort sowas wie eine Schwestern-WG? Leider sind meine Mittel als Studentin doch stark begrenzt."

"Ich schlage vor, dass Sie mir Ihre E-Mail-Adresse aufschreiben und ich schreibe Ihnen meine auf. Senden Sie mir schnellstmöglich Ihre Bewerbung und Unterlagen zu. Sobald ich sie erhalten habe, werde ich zeitnah darauf reagieren. Eine feste Zusage kann ich Ihnen erst nach Erhalt der Unterlagen geben und die bekommen Sie auch schriftlich von mir. Zwischenzeitlich werde ich mich im Krankenhaus informieren, ob eine Unterbringung möglich ist. Im Schwesternwohnheim waren bislang nur wenige Plätze frei, daher kann ich keine verbindliche Aussage tätigen."

"Selbstverständlich werde ich Ihnen umgehend meine Unterlagen zusenden", sagte sie, während Michele ihr seine private E-Mail-Adresse aufschrieb.

Er reichte ihr den Zettel und sagte: "Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht sofort eine feste Zusage machen kann. Sollten Sie jedoch Ihre Praxiserfahrung bei mir machen wollen, möchte ich Sie vorab darauf vorbereiten, dass Sie aus Hygienegründen im Operationssaal auf Ihre Piercings verzichten müssen."

Tori seufzte betrübt. "Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss, wenn ich mein Praktikum in der Chirurgie machen will. Aber an der Chirurgie kommt man als angehender Mediziner leider nicht vorbei."

Michele nickte. "Stimmt", pflichtete er ihr bei. "Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich sputen."

"Danke, Professor." Tori stand auf und rückte den Stuhl an den Tisch. "Vielen Dank und gute Heimreise. Ich werde Ihnen gleich meine Unterlagen zusenden, ich kann es kaum erwarten, Ihnen bei der Arbeit assistieren und zusehen zu dürfen."

Michele begleitete sie höflich zur Tür und reichte ihr zum Abschied seine Hand. "Bis demnächst."

"Auf jeden Fall", gab sie euphorisch zurück, öffnete die Haustür und sprang freudig die Stufen hinunter.

Michele sah ihr einen kurzen Moment nach. Er war bereits jetzt schon auf ihre Unterlagen gespannt. Anschließend ging er zu Vito ins Schlafzimmer. "Entschuldige, es hat etwas länger gedauert. Ich packe noch schnell meine Sachen zusammen, dann können wir uns auf den Heimweg machen."

"Schon erledigt", sagte Vito, der gelangweilt auf dem Bett lag und Löcher in die Luft starrte.

"Das nenne ich Service", erwiderte Michele grinsend. "Dann nichts wie los. Ach, die Werkbank muss ich noch auseinanderschrauben."

"Das mache ich schnell." Der fleißige Roboter stand auf und verschwand zur Tür hinaus.

Michele schnappte sich die bereits gepackte Reisetasche und schaute sich noch einmal in jedem Raum um, ob Vito auch nichts vergessen hatte, dann folgte er seinem Roboter in die Garage und verfrachtete die Einzelteile der Werkbank in den Kofferraum. "Anschnallen!", befahl er Vito und setzte sich hinters Lenkrad. Einen Moment später traten sie die Heimreise an.

Kurz bevor Michele auf die große Hauptstraße einbiegen wollte, trat er unsanft auf die Bremse, weil er Tori entdeckt hatte. Vito quiekte kurz auf, zeitgleich wurde sein Oberkörper nach vorn geworfen, während sein Metallschädel ungebremst die Windschutzscheibe küsste. Von dem lauten Knall zuckte Michele zusammen, währenddessen wurde Vitos Oberkörper wieder zurück in den Sitz geschleudert. Mit einem lauten Signalton und Zischen der Stromleitungen verabschiedete sich sogleich die Technik. Vito ließ den Kopf hängen und schmorte vor sich hin.

"Verdammt", fluchte Michele, "ich habe doch gesagt: Anschnallen!"

Der junge Mediziner schüttelte über den Roboter den Kopf, ließ ihn aber schmorend im Auto sitzen und stieg aus.

"Tori", rief er ihren Namen und eilte zu ihr hinüber. Sie stand zusammengekauert an einem Baum. Vorsichtig schaute er über ihre Schulter und erkundigte sich besorgt: "Ist alles in Ordnung?"

Tori hatte die Luft angehalten und die Augen zusammengekniffen, doch als sie seine Körperwärme im Rücken spürte, kam sie mit ihrem Oberkörper wieder hoch. Ihr Körper zuckte dezent, dann lief ihr Gesicht rot an. "Ähm", machte sie und räusperte sich. Ihr war das peinlich, dass ausgerechnet der unglaubliche Professor sie so sehen musste. "Danke der Nachfrage", stammelte sie, "ja, es ist alles in Ordnung."

"Wirklich?", hakte Michele nach, denn das sah ganz und gar nicht danach aus.

"Wirklich", versicherte sie ihm versteinert. "Kommen Sie gut Heim. Sobald ich zu Hause bin, werden Sie Post von mir bekommen", versuchte sie sich peinlich berührt aus der Affäre zu ziehen, indem sie vom Thema ablenkte und sich am besten auch nicht bewegte.

"Ja, das sagten Sie bereits", erwiderte Michele skeptisch. Er musste sich weit vorbeugen, damit er einen Blick in ihr Gesicht werfen konnte, denn er glaubte ihrer Aussage nicht. "Kann ich Sie nach Hause bringen?"

Tori schüttelte energisch den Kopf. "Nein, nein. Mein Auto steht am Straßenrand. Bis dann, Professor", wimmelte sie ihn ab.

"Na schön, wie Sie wollen", gab er nach. "Ja, bis dann." Er ließ ihr einen letzten argwöhnischen Blick zuteilwerden und ging zurück zu seinem Auto, in dem der defekte Roboter nicht auf ihn wartete.

Tori sah Michele traurig hinterher. Sie setzte an, dann zögerte sie wieder, um nochmal neu anzusetzen. "Professor?", rief sie hinter ihm her.

Michele drehte sich zu ihr um. "Ja?" An den Titel musste er sich erst noch gewöhnen, aber er war der Lohn für seinen Fleiß.

Tori biss sich auf die Unterlippe und ballte ihre Fäuste. Schließlich überlegte sie es sich anders. "Fahren Sie vorsichtig und bitte melden Sie sich bei mir. Für mich hängt sehr viel von dem Praktikum ab."

"Das werde ich, machen Sie sich keine Sorgen." Anschließend setzte er seinen Weg fort, stieg ins Auto und bog auf die Hauptstraße ein.

Was Michele nicht mehr sehen konnte, war, dass die junge Studentin weinend auf ihre Knie fiel.

Es hatte sie enorm viel Kraft gekostet, ihre Tränen so lange zu unterdrücken, bis er es nicht mehr sehen konnte.

Textlänge: 2.260 Wörter

Mittwoch, 7. Februar 2018

Teil 196 - Du bekommst einen bedeutsamen Namen von mir ...

~ Vier Tage später ~

Micheles vorletzter Tag in Riverview verabschiedete sich allmählich. Er hatte schon alle Arbeiten seiner anvertrauten Klasse durchgesehen und benotet. Aber auch der Professorenausschuss hatte Micheles Benotung festgelegt, nachdem seine Unterrichtsmethode eingehend verfolgt worden war.

Die Klausur, die er selbst erstellt hatte, sein Unterricht und seine schriftlichen Werke sorgten für Staunen, aber auch manchmal für Entsetzen, im positiven Sinne.

Ferner hatte sein Roboter enorm an Gestalt zugenommen. Irgendetwas wollte jedoch nicht so recht funktionieren und dem wollte er sich heute widmen.

Mit all seiner Leidenschaft gab er sich der Technik hin und vergaß beinahe die Zeit. Er brauchte nur noch einen verdammten Draht zusammenzulöten, dann müsste es seiner Meinung nach vollbracht sein.

Er linste auf seine Uhr. Es war weit nach Mitternacht, aber er konnte die Antwort auf seine langgehegte Frage nicht auf den nächsten Tag verlegen, nicht so dicht vor dem Ziel. Dazu war er viel zu neugierig und befand sich viel zu tief im technischen Rausch.

Die Spannung stieg ins Unermessliche, so kurz vor dem letzten Handgriff. Der Roboter saß bereits fix und fertig auf der Werkbank, er musste sich nur noch eigenständig bewegen.

Michele griff zum Lötkolben und befestigte die verdächtigten Elektroden, anschließend schraubte er die letzte Schraube in das vorgesehene Gewinde. Skeptisch musterte er den Roboter, der noch immer starr und bewegungslos auf seiner Werkbank saß.

Der junge Mediziner leckte provokant seinen Zeigefinger an und drückte schwungvoll den Powerknopf.

Kurz darauf zischten elektrische Blitze durch das kalte Metall. Michele kniff die Augen zusammen. Die Anspannung schoss über das Ziel hinaus. "Komm schon!", feuerte er den Roboter an.

Die Arme des Blechmannes setzten sich allmählich in Bewegung. Sein Kopf war kraftlos und plumpste nach hinten weg. Gerade als Michele Hand anlegen wollte, damit der Kopf nicht abfallen konnte, klappte der Kopf auch schon wieder nach vorn, dann bewegte er sich zuckend in die Senkrechte. Große Metallaugen glotzten Michele an.

"Danke Herrgott, er bewegt sich", jubelte Michele und reckte seine Arme in den Himmel. Er freute sich seines Lebens, denn hiermit erfüllte sich ein langgehegter Wunsch.

Der Roboter sackte noch einmal in sich zusammen.

"Nein", konsternierte Michele erstarrt, "jetzt bloß keinen Kurzen kriegen."

Doch dann drehte der Blechmann nacheinander seine Gelenke und nahm einen self check vor.

Es folgte ein Signalton, anschließend sprang der Roboter von der Werkbank und kam direkt vor Michele zum Stehen. Er blickte starr auf seinen Erfinder, während dieser ihn abwartend musterte.

Ein Knistern lag in der Luft. Für Michele war das ein unglaublicher Moment. Am liebsten hätte er den Roboter geschüttelt, damit er endlich sprach.

"Hallo", kam es endlich, aber noch abgehackt, weil der Sprachcheck noch nicht vollständig durchgelaufen war. "Wie. lautet. mein. Name? Du. bist. mein. Vater." Der Kopf drehte sich ein Mal um die eigene Achse, bis schließlich große Metallaugen verwirrt auf Micheles Haut brannten.

Der junge Doktor konnte es nicht glauben. Er hätte zweifelsohne Erfinder werden sollen. Der Roboter war der Beweis, dass er es drauf gehabt hätte. Warum nicht Arzt und Erfinder?, schoss es ihm durch den Kopf. Warum bin ich nicht gleich drauf gekommen? Ich könnte locker beides machen, solange es mir die Zeit erlaubt.

"Wie. lautet mein. Name? Du bist. mein Vater.", wiederholte sich der Roboter. Eine Sprachverbesserung wurde spürbar.

Michele grinste. "Willkommen auf der Erde, Vito. Du bekommst einen bedeutsamen Namen von mir. Vita bedeutet Leben und ich leite es in die maskuline Form ab, also Vito."

Krass, ich spreche mit meinem Roboter. Einfach nur unglaublich.

"Ja, der Name. gefällt mir sehr. gut. Soll ich dich. Vater nennen?"

"Oh nein, bloß nicht", erwiderte Michele abgehetzt, "ich heiße Michele. Nenne mich einfach bei meinem Namen." Noch überwältigt hielt er sich die Hand an seinem Mund und beobachtete argwöhnisch seine eigene Erfindung.

"Sehr gern, Michele oder Meister. Ich überlege mir das. noch."

Es war eigenartig. Irgendwie nannten ihn seine Mitmenschen, wie sie wollten. Salvatore nannte ihn Chef, seine Mutter Micky, seine damaligen Mitschüler Einstein oder Frankenstein, und jetzt fing sogar der Roboter auch noch damit an. Er hatte doch aber einen Namen, darum verstand er die Problematik nicht, diesen auch zu verwenden.

"Wie fühlst du dich, Vito?"

"Gut. Soll ich putzen?"

"Nein", erwiderte Michele, "es ist spät. Ich gehe jetzt schlafen und was du machst, weiß ich nicht. Was willst du denn gerne machen?"

"Ich will auch schlafen", erwiderte Vito, wackelte an Michele vorbei und verbreitete damit Aufbruchsstimmung.

Das Haus besaß nur ein Bett und Michele war ganz und gar nicht daran interessiert, sich dieses eine Bett mit seinem Roboter zu teilen.

~ ~ ~

"Möchtest du frühstücken?", hallte es unsichtbar durch den Raum, nachdem Michele gedankenversunken das Wohnzimmer betreten hatte.

Der junge Arzt erstarrte einen kurzen Moment, bis ihm sein Gedächtnis verriet, dass er letzte Nacht einen Roboter gebaut hatte. Er musste sich an den Gedanken erst noch gewöhnen. Allerdings musste er sich eingestehen, dass seine Erfindung viel mehr Intelligenz abbekommen hatte, als erwartet.

"Nein, danke", gab Michele kurz zurück und verschwand ins Badezimmer. Er schien sich gerade die Zähne zu putzen, denn danach hörte sich seine etwas undeutliche Frage an. "Weißt du noch deinen Namen?"

"Ich heiße Vito. Das ist ein abgeleiteter Name von Vita und bedeutet Leben."

Michele lugte durch den Türspalt und grinste. "Richtig", gab er zufrieden zurück und kehrte dann in voller Lebensgröße im Wohnzimmer ein. "Kannst du kochen?", wollte der junge Arzt schließlich wissen.

"Ja, Meister. Ich kann Spaghetti, Salat, Thunfisch, Waffeln, Butterkekse ..."

"Okay", unterbrach Michele ihn. "Ich habe nicht so viel Zeit, mir deine programmierte Liste anzuhören. Ich weiß, was du alles kochen kannst, ich wollte mich nur vergewissern, ob du das auch weißt. Ich muss jetzt zur Universität. Heute ist mein letzter Tag, danach werden wir nach Hause fahren. Aber du könntest vorher noch etwas kochen, ehe wir uns auf den langen Weg machen."

"Nach Hause? Langer Weg?" Vito schaute beunruhigt zu seinem Erschaffer und hielt sich die Hand vor dem Mund.

Als Michele die glühenden Augen seines Roboters auf seiner Haut spürte, stellte er verdutzt fest, dass der Roboter sogar Mimik hatte. Zumindest meinte er in Vitos Gesichtsausdruck eine Emotion gesehen zu haben. "Hier wohnen wir nicht, Vito. Erst heute Abend wirst du dein Zuhause kennenlernen und dort bekommst du dann auch dein eigenes Bett. Bis nachher. Ich bin gegen vierzehn Uhr wieder zurück. Mach keinen Blödsinn während meiner Abwesenheit." Michele änderte seine Richtung, huschte zu seiner Reisetasche und kam mit ein paar Bücher zurück. Er legte sie auf den Tisch und ordnete an: "Lese alle Bücher durch. Ich frage nachher dein Wissen ab", drohte er im nächsten Atemzug, damit der Roboter erst gar nicht auf dumme Ideen kam.

Der junge Mediziner musste sich sputen. Er stellte eilig sein Auto auf dem Parkplatz ab und hetzte ins Klassenzimmer. "Guten Morgen", begrüßte er alle Studenten, nachdem er es betreten hatte. Alle Studenten begrüßten auch ihn im Chor und wünschten ebenso einen guten Morgen.

Irritiert beäugte er einen leeren Platz. "Weiß jemand, ob Lennie noch erscheinen wird?"

"Ich glaube nicht, dass er noch kommen wird", antwortete Mia genervt.

Michele konnte sich denken, warum Lennie nicht zum Unterricht erschienen war, schließlich hatte er seine Klausur benoten müssen. Der junge Mediziner konnte das Schuldgefühl nicht ablegen und verbuchte Lennies schlechte Klausur auf sein eigenes Konto, weil er anscheinend nicht in der Lage gewesen war, den Stoff zureichend zu vermitteln.

Tori bemerkte es an Micheles betroffenem Gesichtsausdruck und schritt ein: "Es ist nicht Ihre Schuld, Doktor. Ich glaube, Lennie hat in letzter Zeit keine gute Phase. Er hat sich schon seit geraumer Zeit beschwert, dass er dem Unterricht nicht mehr folgen kann."

Micheles Miene hellte sich ein wenig auf. Nicht, weil er Toris trostspendenden Worte wirklich annehmen konnte, sondern weil ihm die junge Frau, mit der besten Klausur und voller Punktzahl, versuchte zuzusprechen.

~ ~ ~

Die letzte viertel Stunde seines Unterrichts war angebrochen, als unerwartet die Tür aufging. Einige Herren betraten den Raum, unter anderem auch Professor George, der anscheinend extra angereist war. Er reichte Michele die Hand und lächelte. "Ich habe von Ihrer hervorragenden Leistung gehört und konnte es mir nicht nehmen lassen, nach Riverview zu kommen, um vor Ihrer Klasse zu verkünden, dass Sie heute die Universität als Professor verlassen werden." Professor George stellte Michele zwar noch seinen Kollegen vor, aber der junge Mediziner nahm das kaum noch wahr.

Ein Raunen vieler Stimmen füllte den Raum. Tori riss es vor Begeisterung vom Stuhl. Sie sprang auf und klatschte euphorisch in ihre Hände. "Glückwunsch", jubelte sie ungebremst. Anschließend riss es auch die restlichen Studenten von den Stühlen. Das laute Klatschen verhinderte jede weitere Unterhaltung.

Michele stand total überrumpelt am Lehrerpult. Es hatte ihm die Sprache komplett verschlagen. Derartiges mochte er ganz und gar nicht. Ihm wurde warm, seine Hände schwitzten und seine Stirn tat es den Händen gleich. Trotz der Panikattacke und vielen Symptomen, wie unter anderem Herzrasen, Sauerstoffmangel bis hin zu Erstickungsgefühlen und Schwindel, versuchte er gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dieser Weg der Verkündung war absolut unüblich, darum hatte er damit überhaupt nicht gerechnet und hatte sich nicht auf die bevorstehende Situation einstellen können.

Eilig versuchte er sich zu spüren, massierte mit kräftigem Druck seine Schläfen und bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren.

"Unser Prüfungsausschuss war sich ausnahmslos einig", fuhr Professor George munter fort und überreichte Michele überschwänglich das Zertifikat. "Herzlichen Glückwunsch, Kollege."

Toris überragende Beobachtungsgabe signalisierte ihr, dass es dem frischernannten Professor nicht gut zu gehen schien. Sie mischte sich ein und fragte ihn keck: "Professor, wollen Sie nicht unsere Klasse im nächsten Semester übernehmen?" Sie meinte es aber dennoch ernst, sehr ernst sogar. "Es wäre doch schon das letzte Semester. Ich glaube, dann hätte sogar unser Dummkopf Lennie eine Chance sein Studium zu schaffen."

Plötzlich verschwamm vor Micheles Auge alles zu einer einzigen Masse. Die Geräusche verklumpten um ihn herum und bekamen einen dumpfen Klang. Taubheit legte sich auf seinen Körper und richtete den Fokus auf seinen Magen, der nun darauf mit Übelkeit und wässrigem Speichel antwortete. Verzweifelt hielt sich der junge Mediziner die Hand vor dem Mund.

Es wäre an Peinlichkeit nicht zu überbieten, wenn er sich vor allen Leuten im Klassenraum übergeben müsste.

Mittlerweile wichen die freudigen Gesichtsausdrücke um ihn herum und machten der besorgniserregenden Miene Platz, was allerdings die Situation für ihn verschlimmerte.

"Doktor, äh Professor, geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?", fragte Tori unruhig und ließ ihn nicht aus den Augen.

Der junge Mediziner spürte, dass er unter der Panikattacke zusammenzubrechen drohte und musste sich aus der unerträglichen Situation entziehen. "Ich komme gleich wieder", entschuldigte er sich beim hinaushechten aus dem Klassenzimmer.

Er schleppte sich auf die nächstliegende Toilette und übergab sich. Anschließend hielt er seine Handgelenke unter kaltes, fließendes Wasser und schleuderte sich etwas vom kühlen Nass auch ins Gesicht. Der Druck in seinem Kopf ließ allmählich nach. Nach ein paar Schlucken Leitungswasser wurde auch die Sicht wieder schärfer. "Verdammt", schimpfte er mit sich selbst und drehte den Wasserhahn wieder zu. Er stützte sich noch einen kurzen Moment auf dem Waschbecken ab und versuchte weiterhin seine Atmung zu regulieren.

Ihm war ja nicht erst seit gestern bekannt, dass er hin und wieder unter Panikattacken litt, sobald Menschenmassen auf ihn einstürzten. Allerdings war die letzte Attacke dieser Art schon einige Zeit her, sodass er beinahe vergessen hatte, wie furchtbar so eine Attacke zusetzen konnte. Aus diesem Grund war er auch froh, dass er die Panik soweit in den Griff bekommen hatte, solange er sich auf eine bevorstehende Situationen seelisch vorbereiten konnte. Zwar war er auch dann nicht vollkommen panikfrei, aber er konnte es auf ein erträgliches Maß drosseln und auf seine Symptome einwirken. Beispielsweise wie bei diesem Unterricht, der auch alles von ihm abverlangte, jedoch hatte er ausreichend Zeit sich im Vorfeld damit auseinanderzusetzen und darauf vorzubereiten.

Die jetzige Situation mit den vier Professoren hatte ihm wieder einmal mit aller Brutalität aufgezeigt, wie schmal der Grat war, auf dem er sich bewegte. Auf der anderen Seite war er sehr erleichtert, dass keine andere Persönlichkeit die Situation übernommen hatte, was in dem Fall sehr schnell hätte passieren können. Glück im Unglück, dachte er mit einer Prise Sarkasmus.

Micheles Körper hatte mittlerweile das Rebellieren eingestellt. Er hievte sich auf die Beine, atmete noch einmal tief ein und begab sich mit weichen Knien auf den Weg zurück ins Klassenzimmer.

Auf den Weg dorthin wirkte er massiv auf sich ein, damit er nicht von der nächsten Panikattacke übermannt werden konnte.


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