Freitag, 27. Januar 2017

Du bist so vollkommen ...

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Wie an fast jedem Tag, warf die Sonne auch heute ihre heißen Strahlen auf Monte Vista.

"Es ist leider gleich so weit", seufzte Michele. Er zog den Reißverschluss mit einem Ruck zu. Alles was er besaß, hatte er in einem kleinen Rucksack verstaut. Er quälte sich ein aufmunterndes Lächeln auf die Lippen und warf sich den Rucksack schwungvoll über die Schultern.

Auch Antonella seufzte schwer und blickte traurig auf ihren Sohn. "Wirklich? Schon?"

Er nickte. "Ja, leider. Willst du nicht doch mit mir kommen - weg von diesem brutalen Mistkerl. Wir könnten zusammen ein neues Leben beginnen." Er ließ seine Mutter nur widerwillig bei dem Kerl, der sich sein Vater schimpfte.

Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe. "Wenn du dich in Twinbrook eingelebt hast, dann komme ich dich auf jeden Fall besuchen. Und ich spüre, dass du die Mister Wahl gewinnen wirst. Für mich bist du sowieso der schönste Mann, den die Welt je gesehen hat. Du bist so vollkommen ..."

"Schon gut, Mum", unterbrach er seine Mutter und lächelte verschämt.

"Weißt du, ich wusste ja, dass der Tag kommen würde, an dem du mich verlässt, aber ich konnte mich nie wirklich darauf vorbereiten." Ihre Stimme zitterte. "Die Kette wird dich schützen und auch die Uhr. Pass gut auf die Erbstücke deines Großvaters auf."

Michele nahm das Kruzifix zwischen seine Finger und küsste es. "Das werde ich", versprach er. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. "Mum ..."

"Du wirst das verdammte Preisgeld gewinnen, ich spüre das", fiel sie ihm ins Wort. Sie machte sich wahnsinnige Sorgen, dass ihr Sohn ohne Geld dastehen könnte, denn sie konnte ihn finanziell nicht unterstützen. Genau genommen reichten die Einnahmen der Weinplantage gerade für die monatliche Miete.

"Mum, komm mit!", flüsterte er flehend.

"Ich gehöre hier her", erwiderte sie beinahe überzeugt.

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, küsste sie sanft auf die Stirn und lächelte sie an. "Drück mir die Daumen, dass ich die Mister Wahl ohne nervlichen Zusammenbruch überstehe. Ich muss jetzt los."

Antonella zitterte am ganzen Leib. Ein letztes Mal drückte sie ihren geliebten Sohn an sich. Sie würde wohl nie damit aufhören können, sich um ihn zu sorgen. Als er auf die Welt gekommen war, hatten ihre Sorgen begonnen.

Er war ihr ganzer Lebensinhalt, ihr Ein und Alles.

Dann löste er sich aus der Umarmung, strich ihr liebevoll über die Wange und ging hinaus. Von der kleinen Veranda aus blickte er auf seinen Vater, der wie jeden Tag auf der Weinplantage arbeitete. Michele überlegte einen Augenblick lang zu seinem Vater hinunter zu gehen, um sich von ihm zu verabschieden.

Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb dann aber erstarrt stehen.

Toni wusste, dass sein Sohn heute das Land verlassen würde, aber er hielt es nicht für nötig, sich von seinem Sohn zu verabschieden.

Michele wandte sich wieder seiner Mutter zu, gab ihr rechts und links einen Kuss und machte sich schließlich endgültig auf die lange Reise nach Twinbrook. Eine mehrtägige Zugfahrt stand ihm bevor, auch die verhasste Mister Wahl, aber er nahm all das in Kauf, um sich endlich aus den Zwängen seines Vaters befreien zu können. Er hoffte auf ein Leben ohne Vorurteile, Gewalt, Erniedrigungen und Lieblosigkeit.

Antonella sah ihm traurig nach und wischte sich heimlich die Tränen aus dem Gesicht.

"Melde dich bitte, sobald du angekommen bist", rief sie ihm verzweifelt hinterher.

Michele drehte sich noch einmal zu ihr um, winkte und rief. "Ich liebe dich!"

Das hätte er nicht sagen dürfen. Diese Worte knallten in ihren Körper wie Stromschläge. Sie vergrub schnell ihr Gesicht in den Händen, damit ihr desinteressierter Ehemann nicht sah, dass sie ihrem geliebten Sohn hinterher weinte.

Als sie Michele nicht mehr sehen konnte, lief sie ins Haus und warf sich weinend aufs Bett.

Sie konnte die schlimmen Momente nicht vergessen, die sie mit ihrem Sohn mitgelitten hatte ...

Rückblick ~ Italien ~ Monte Vista

Wieder einmal kam ihr kleiner Sohn weinend von der Schule und wieder war die junge Mutter mit ihrem Latein am Ende. Unzählige Male hatte sie mit dem Rektor der Schule Gespräche geführt, unzählige Male war Besserung versprochen worden und unzählige Male kam Michele weinend von der Schule nach Hause.

Es war absurd, aber das Erste was sie dachte, als sie ihn sah, war, dass wenigstens seine Kleidung nicht zerrissen war. Wie konnte sie nur an die Kleidung denken? Aber das wenige Geld, was der Familie zur Verfügung stand, hätte für neue Kleidung nicht gereicht.

Geknickt folgte sie ihm ins Schlafzimmer. Michele lag auf dem Bett, mit dem Gesicht zur Wand.

Vorsichtig trat sie ans Bett und hockte sich davor. "Mick, mein Liebling, erzähl mir, was dir heute passiert ist. Komm schon, ich weiß, dass es dir nicht gut geht."

"Lass mich allein. Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das", erwiderte er mit erstickter Stimme.

"Micky bitte, erzähle es mir. Reden kann manchmal schon viel helfen."

"Nein Mama, nicht jetzt!" Dann schnappte er stoßartig nach Luft.

"Was haben dir die verfluchten Kinder schon wieder angetan?" Wut mischte sich unter ihre Hilflosigkeit. Sie biss sich auf die Zähne und streichelte ihn.

"Nichts, was du nicht schon weißt. Lass mich bitte allein."

Zornig und hilflos gleichermaßen kam sie seiner Bitte nach und eilte hinaus zu Toni, der wie jeden Tag auf der Weinplantage seinen Rücken krumm schuftete. Auch für einen billigen Rasensprenger war kein Geld da. "Schatz, ich muss mit dir reden", sagte sie und kam hinter ihm zum Stehen. "So kann das nicht mehr weitergehen. Micky ist schon wieder weinend von der Schule gekommen und jetzt spricht er nicht einmal mehr mit mir ..."

"Antonella, bitte", unterbrach er sie genervt. "Du siehst doch, dass ich schwer arbeite. Ich muss mich beeilen, damit ich heute noch die Ernte auf dem Markt verkaufen kann. Wenn ich das nicht schaffe, haben wir für die nächste Woche keinen müden Cent. Willst du das? Außerdem - nenn ihn nicht immer Micky. Du verweichlichst den Jungen immer mehr. Kein Wunder, dass er heulend, wie ein Mädchen nach Hause kommt."

Natürlich wollte Antonella nicht, dass die Familie ohne Geld dastand, und ging mit hängenden Schultern zurück ins Haus.

Gedankenverloren bereitete sie ein einfaches Mittagessen zu, damit Toni noch etwas in den Magen bekam, ehe er sich auf dem Markt bis in den späten Abend die Beine in den Bauch stehen musste.

Niemand fragte sie, wie sie es anstellte, von dem bisschen Geld täglich eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Oftmals war sie froh, wenn das Geld noch für Mehl und Eier ausreichte.

Sie stellte die frisch zubereiteten Waffeln auf den Tisch und rief laut: "Essen ist fertig", damit ihre Männer an den Tisch kamen.

"Komme sofort!", rief Toni von draußen zurück. Nur Michele gab keinen Mucks von sich.

"Micky, bitte komm essen", rief sie nochmals, aber er antwortete wieder nicht.

Währenddessen betrat Toni das Haus. "Man, nicht schon wieder Waffeln", sagte er abfällig.

Wütend funkelte Antonella ihren Mann an. "Für etwas anderes reicht unser Geld aber nicht. Micky braucht wieder eine neue Hose und würde sich auch mal über ein neues Buch freuen."

"Hast du sie noch alle? Wir fressen seit Tagen Waffeln und du denkst an Klamotten und Bücher?"

"Ganz genau", konterte sie. "Wir müssen etwas unternehmen. So kann das nicht mehr weitergehen. Du arbeitest dir deinen Rücken krumm und trotzdem reicht unser Geld gerade mal für die Miete - wenn überhaupt. Mick wird gehänselt, weil wir ihn immer in denselben Lumpen rumlaufen lassen. Toni, so kann das einfach nicht mehr weitergehen."

"Es liegt nicht nur an seinen Klamotten", spottete Toni, ohne zu bemerken, dass gerade sein Sohn den Raum betrat. "Schau ihn dir doch mal an. Er ist hässlich und anders als die Anderen. Nur deswegen wird er von seinen Klassenkameraden fertiggemacht."

Verzweifelt gab sie ihrem Mann Zeichen, damit er seinen Mund hielt, aber es war längst zu spät gewesen. Michele hatte jedes einzelne Wort gehört. Panisch lief sie zu ihm und drückte ihn an sich, während Toni genervt seine Augen verengte.

"Micky, mein Schatz, höre nicht hin, was die anderen über dich sagen. Sie liegen allesamt falsch damit. Du bist ein sehr hübscher und intelligenter Junge. Davor haben alle Angst, sie haben Angst vor deiner unglaublichen Intelligenz."

Verletzt blickte der kleine Junge auf seinen Vater.

Es war schon schlimm genug, dass er keine Freunde hatte, es war schlimm, dass er tagtäglich geschlagen und gemobbt wurde, aber so etwas von seinem eigenen Vater hören zu müssen, war ein vernichtender Schmerz. Er war nicht einmal mehr in der Lage zu weinen, obwohl er hätte Sturzbäche weinen können. Irgendwann löste er sich aus der Umarmung seiner Mutter, stand auf, ging wortlos zum Tisch und aß still einen Teller vom Mittagessen, ohne zu nörgeln, dass es schon seit Tagen Waffeln gab. Anschließend ging er wieder ins Zimmer, während seine Eltern die ganze Zeit still im Raum gestanden hatten.

Nachdem Michele hinter sich die Tür geschlossen hatte, giftete Antonella ihren Mann an: "Musste das sein? Du bist sein Vater, wie kannst du nur so etwas über deinen eigenen Sohn sagen? Schäm dich!"

"Halt den Mund!", brüllte er plötzlich. "Ich habe das nicht absichtlich vor ihm gesagt, ich habe ihn zu spät gesehen und wage es nicht noch einmal in diesem Ton mit mir zu sprechen."

"Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du nur?"

Antonellas Widerworte provozierten ihn. Versehentlich entglitt ihm seine Hand und traf sie mitten ins Gesicht.

Wie so oft hatte Toni sich nicht mehr unter Kontrolle. Immer öfter schlug er zu, weil er ihre Widerworte nicht mehr ertragen konnte und das konnte sich ein Familienoberhaupt einfach nicht bieten lassen.

Gedemütigt und ängstlich gleichermaßen sah sie auf ihn. "Mascalzone", rutschte es aus ihr heraus.

Dann lief sie schnell in den Garten und brachte sich in Sicherheit.

Eigentlich hätte er ihr nach dieser Beleidigung nachlaufen müssen, aber sein Kopf dröhnte mittlerweile von dem ganzen Theater. Wahrscheinlich müsste er ihr noch härtere Ohrfeigen geben, damit sie endlich still war und tat, was er befahl.

Michele hatte sich, so wie jedes Mal, unter seiner Bettdecke verkrochen und vor Angst geweint. Er war viel zu klein und schwach, um seiner Mutter zu helfen. Und wenn er das getan hatte, dann hatte auch er Prügel von seinem Vater bekommen, der erst dann aufgehört hatte zu schlagen, wenn er die Kontrolle zurückerlangt hatte. Aber bis dahin hatte der kleine Junge viele schmerzhafte Minuten ertragen müssen.

Textlänge: 1.717 Wörter

 ~ Teil 002 ~

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